Sonntag, 22. Dezember 2019

Patagonien


Unterwegs im Parque Nacional Torres del Paine


Auf der landschaftlich reizvollen Fahrt sichten wir Schopfkarakaras und Schwarzbrustadler, Vögel von beeindruckender Größe mit erfreulich wenig Respekt vor uns. Mispel, Pan del Indio (gelblich runde Baumpilze) und Bartflechten wachsen auf den von Wind, Sonne und Nässe lädierten Bäumen, die als Ensemble stellenweise aussehen wie ein Bonsaigarten.




Bald sind es die Berge, die unsere Blicke auf sich ziehen. Aus Sorge, sie könnten sich verhüllen, nützen wir bei unserer Annäherung jeden Stopp, um sie fotografisch festzuhalten. Ein schlechter Ruf eilt den Torres del Paine voraus. Wem sie sich zeigen, gewähren sie oft nur eine kurze Audienz, ehe sie sich wieder in Wolken hüllen. Ihre Zinnen bilden für die über dem Südozean jagenden Westwinde das erste Hindernis nach Neuseeland. In sich verdreht, in Schnee wie Puderzucker getunkt sind die Granitsäulen der Cuernos del Paine von beeindruckender Schönheit.


Die Flüsse transportieren die Gletschermilch in die zahlreichen Seen des Nationalparks und verleihen diesen das charakteristische Türkisgrün.


Guanakos, an Besucher gewöhnt, haben die Scheu vor Menschen abgelegt.



Über Nacht hat es aufgeklart. Sonne und vielstimmiger Vogelgesang wecken uns und der Blick aus unserem kleinen Fenster im Alkoven zeigt die von Morgennebeln umwölkten Torres del Paine, nach denen der Park benannt ist. Sie sind das vielversprechende Ziel unserer heutigen Wanderung.


Vorerst aber lassen wir uns noch von einer orangebauchigen, langschwänzigen Wiesenlerche bezaubern, die ihr Spiegelbild in der Windschutzscheibe eines neben uns abgestellten Autos entdeckt hat und dieses offensichtlich für einen Rivalen oder eine potentielle Angebetete hält. Wie wild begehrt der Vogel Einlass, bearbeitet Türschnallen und Gummidichtungen. Offensichtlich verfolgt er sein Vorhaben bereits seit geraumer Zeit und findet die Aussichtslosigkeit seines Tuns beschissen, denn das Fahrzeug ist bereits über und über mit Kot bedeckt.


Am Beginn der Wanderung geht es durch Margeritenwiesen bis zum Einstieg in das Hochtal, dessen wildschäumender Bach uns den Weg weist. Wohin das Auge blickt, blüht es. Bäume, Sträucher und stachelige Polsterpflanzen erinnern an die Macchie. Später führt der Weg durch einen verwunschen wirkenden Südbuchenwald und zuletzt über eine 350 Meter hohe Steilstufe hinauf zum Base de las Torres.




Die Tiefblicke, die sich uns bieten, sind mit Worten nicht zu beschreiben. Nach viereinhalb Stunden Anmarsch muss ich schon einen recht erschöpften Eindruck machen, denn einige der entgegenkommenden Wanderer muntern mich auf. „You are doing good work!“ und „It´s a miracle! Worth to do it!” vernehme ich. Am Ziel angelangt, gebe ich ihnen Recht. Drei spiegelglatte, weiße Granitzinnen erheben sich aus einem schwarz-weiß gestreiften Bassin, in dem ein türkisgrüner See die Wände spiegelt. Trotz des Wirbels am Ufer überträgt sich die majestätische Ausstrahlung des Ortes auf jeden. Ein Mann, der offensichtlich ebenso erschöpft ist wie ich, ruft laut: „If I die on this place, it´s ok!“


Die sandfarbene Meseta mit ihren dunklen Seenaugen unter dem bleifarbenen Himmel bildet den ultimativen Kontrast zu unserm gestrigen Erlebnis. Im Niemandsland zwischen der chilenischen und argentinischen Grenze queren vor unserem Auto an die Tausend frisch geschorene Schafe die Straße. Die berittenen Hirten in ihren Ponchos grüßen freundlich herüber, als wir unser Fahrzeug langsam durch die, sich wie eine einzige Masse bewegenden, Tierkörper navigieren; stolzes Lachen in dunklen, baskenbemützten Gesichtern.



Wir halten uns auf der Ruta 40 in Richtung Norden. Ein abenteuerlicher Ruf haftet dieser längsten aller argentinischen Straße an. Sie verbindet Gletscher, Vulkane und leuchtende Seen. Dabei führt sie durch Regionen, in denen man eher Guanakos, Straußen oder Raubvögeln begegnet als Menschen.


Suchbild


Richtig ! Ein Darwin-Nandu mit Küken, gut getarnt die Kleinen, auffallend der Große. Während das Muttertier mit seinem Nachwuchs in elegantem Galopp das Weite sucht, bauscht der Wind das prachtvolle Gefieder. 50 km/h erreicht ein ausgewachsener Nandu. Selbst die Küken düsen ab wie „Pfitschipfeile“. Wenig weiter erzählen die bleichen Knochen eines verendeten Tiers ihre Geschichte. War es ein Puma, der seine Beute in die windgeschützte Senke schleppte, um sie dort in Ruhe zu verzehren oder entdeckte einer der Adler das Aas, für das sich der König der Lüfte nicht zu fein ist?


Am Lago Argentino erreichen wir El Calafate, ein Städtchen, das sich stolz den Beinamen Welthauptstadt der Gletscher gibt. Vorerst erblicken wir nur sanfte Hügel und den See, in dessen Fläche der Bodensee zweimal hineinpasst. In der Reserva Laguna Nimez führt ein 2,5 km langer Lehrpfad durch ein Vogelschutzgebiet.





Die Region Los Glacieres wurde bereits im Jahre 1937 zum Nationalpark erklärt und gehört seit 1981 zum UNESCO-Weltnaturerbe. Sie ist das größte Schutzgebiet Argentiniens. Zwei Drittel des Parks dienen der Forschung, ein Drittel wird mit Auflagen touristisch genutzt. Der Perito Moreno gehört zum Campo de Hielo Sur, dem drittgrößten zusammenhängenden Eispanzer der Erde und ist einer der 48 Hauptgletscher, die sich von ihm in die Täler wälzen.


Wenngleich wir bereits viele Abbildungen dieser Gletscherschönheit gesehen haben, ist die Begegnung mit ihr eine völlig neue Erfahrung. Die in Grau-, Weiß und Blautönen schillernde Abbruchkante ist 40 bis 70 Meter hoch und misst in ihrer Breite 4 bis 5 Kilometer. Der Koloss aus Eis streckt uns seine zerrissene Zunge entgegen, die aus hochhausgroßen Eisnadeln und abgrundtiefen Schluchten besteht. Mit donnergrollender Stimme verschafft er sich Gehör, sendet Pistolenschüsse der Druckentlastung in den Himmel und speit das Eis, das er nicht halten kann, wütend in das Wasser des Sees.



Punta Bandera um 8 Uhr Früh: mehr als hundert Touristen drängeln sich im Hafenbüro vor den Kassen zweier Touranbieter. Offenbar sind wir hier richtig für die Fahrt zu den Gletschern Upsala und Spagazzini. Unser Katamaran ist bis auf den letzten Platz ausgebucht.


Der riesige Lago Argentino streckt seine Nebenseen wie Krakenarme in das Land. Etwa eine Stunde geht es durch den Brazo Norte und Brazo Upsala, wo uns die ersten Eisberge entgegenkommen. Zuerst sind sie klein, hübsch anzusehen und natürlich werden alle fotografiert. Aber die Steigerung ist enorm. Aus den zierlichen Eisschiffchen werden Hochseekreuzer und schließlich tiefblaue Ungetüme in fantastischen Farbschattierungen und Formen. Der geringe Tiefgang unseres Katamarans ermöglicht es dem Kapitän, nahe an die Eisberge heranzusteuern. Einer der Passagiere pfeift den Titelsong der Titanic und grinst voll Galgenhumor. Ein Liebespärchen lehnt sich an der Spitze des Bugs mit weit ausgebreiteten Armen über die Reling.



Der Upsala-Gletscher ist 60 km lang, was fünfmal der Länge des Aletschgletschers entspricht. Er fließt mit einer Geschwindigkeit von 10 Metern pro Tag ins Tal und kalbt in beängstigendem Ausmaß. Von den über 150 Gletschern Argentiniens bleiben nur 4 in ihrer Größe konstant. Einer von ihnen ist der Glacier Spagazzini.



Mittwoch, 11. Dezember 2019

In der Argentinischen Schweiz


Auf der argentinischen Seite der mächtigen Kordillere führt eine Zweitagestour von Bariloche nach San Martín los Andes, der Circuito Grande. Man möchte meinen, dass wir langsam genug von Seen haben. Dem ist nicht so, denn heute sind wir auf dem Camino de los Siete Lagos, der Route der sieben Seen unterwegs. Die Hänge sind überschüttet mit dem Gelb des Ginsters, übertrumpft von eingestreuten Inseln des leuchtenden Rots der patagonischen Sylvesterbäume. An den Wasserläufen wiegen sich Lupinen und Islandmohn im Wind. Ganzjähriger Regen, starke Sonneneinstrahlung an Schönwettertagen und die fruchtbare Vulkanerde der Region sorgen für einen fantastischen Blütenreichtum. Wie unberührte Kleinode liegen die Seen links und rechts der Straße in mächtigen Urwäldern.



In der Provinz Rio Negro lebt die größte Gruppe der Indigenas Argentiniens. Im Zuge eines wieder erwachten Indigenismo und angeregt von der Schutzgemeinschaft „Defensa de la Cultura Indigena“, wählten die „Erdmenschen“ 1995 das erste Mal seit 100 Jahren wieder Häuptlinge (Caciques). In modernen Zeiten versuchen die Mapuche in Selbstversorgungswirtschaft mehr schlecht als recht zurechzukommen. Noch immer kann ein nicht unerheblicher Teil der Volksgruppe weder lesen noch schreiben. Viele Kinder armer Familien helfen bei der Arbeit auf den Feldern, statt die Schulbank zu drücken.


Auf der Plazza von San Martín de los Andes kommen wir zufällig zu einer Mapuche-Versammlung. Ponchos, die für Gauchos typischen Baskenmützen und Mate trinkenden alte Frauen und Männer geben ein überaus buntes Bild ab. Übermütige Kinder schlagen auf Trommeln ein und pusten in mit bunten Bändern umwickelte Hörner. Die Indios haben ihre Anliegen und Forderungen auf leuchtende Fahnen gedruckt, Kinderzeichnungen dienen als Sympathieträger. Mapucheflaggen flattern im Wind, als solidarisiere sich dieser mit ihren Anliegen. Im Zentrum der Plazza thront das Reiterstandbild irgendeines Erobereres in typischer Macho-Haltung.



Für die Rückfahrt nach Bariloche wählen wir eine abenteuerliche Schotterstraße durch eine Landschaft zwischen Steppe und Wald. Ein Spektakel aus bizarren Felsen, Andesit- und Tobaformationen von 30 bis 50 Millionen Jahre zurückliegenden Vulkanausbrüchen, die sich im Zuge der Gebirgsbildung ereignet haben, begleitet uns. Im Valle Encantado, dem „Verwunschenen Tal“ modellierte der Rio Limay isolierte Felszinnen aus dem Gestein, von denen die Schlankeste „Finger Gottes“ genannt wird.




In der Chilenischen Schweiz


Der Volcán Villarica ist ein Stratovulkan, dessen Höhe, von seiner Basis gerechnet, 2450 Meter beträgt. Die absolute Seehöhe des Gipfels liegt bei 2847 Metern. Er ist im Jahresdurchschnitt von einer 40 Quadratkilometer großen Schneekappe bedeckt.


Wenngleich die Tour auf den mächtigen Eiskegel wohl eine der kommerziellsten Bergbesteigung Chiles ist, lohnt sich der Aufstieg auf jeden Fall. Es gibt weltweit nicht viele Vulkane, in denen in regelmäßigen Abständen die Lava bis 50 Meter unter den Kraterrand hochkocht. Als wir am Morgen um 7 Uhr die Straße zur Talstation eines Schigebietes hochfahren, ist der Himmel noch bedeckt. Glücklicherweise ermöglicht der starke Wind gerade noch den Einsatz des veralteten Liftes. So ersparen wir uns den Fußmarsch über die ersten 400 Höhenmeter und vertrauen uns dem wild schaukelnden Sessel ohne Sicherungsbügel an. Wie wir bald feststellen werden, ist an unserer Tagestour nichts bequem. Völlig durchgefroren am Beginn unseres Aufstiegs angekommen, erhalten wir unsere Pickel und Steigeisen, sowie eine Einführung in den Gebrauch dieser Gerätschaften. Unverzüglich geht es los.


Landschaftlich werden wir mit Blicken auf den Lago Villarrica und zu den Vulkanen Llaima und Sollipulli belohnt. Bald  wird das Gelände steiler und der Weg im eisigen Schnee anspruchsvoll. Alle Konzentration richtet sich auf die Fußstapfen des Vordermannes, ein Augenblick der Unachtsamkeit kann im abschüssigen, vereisten Schnee schlimme Folgen haben. Die Fotos, die wir mit durchgefrorenen Fingern knipsen, sind aus der Hüfte geschossen. Der Vulkan zeigt sich uns zur Hälfte gewogen. Wenngleich sich das Magma zu weit in den Schlot zurückgezogen hat, um uns einen Blick auf das feurige Herz des Berges zu gewähren, haben wir wenigstens freie Sicht in den dampfenden Kessel und mäßige Gasentwicklung, sodass wir unsere Gasmasken nicht aufsetzen müssen.




Abwärts geht es, wie versprochen, mit einem Rutschschlitten – ein Spaß, der spaßiger klingt, als er ist. Unsere Gruppe, bestehend aus zehn Teilnehmern, begibt sich nämlich in einer Rinne, gerade einmal so breit wie wir selbst, auf eine wahre Höllenfahrt ins Tal. Unsere einzige Bremse ist der Pickel, den wir mit allen uns zu Verfügung stehenden Kräften, in den Schnee rammen müssen, wollen wir dem Vordermann nicht ins Hinterteil krachen. Kreuz, Wirbelsäule und Nacken dienen als Stoßdämpfer.


Glücklicherweise erholen sich unsere alten Knochen über Nacht, denn heute erwartet uns ein herrlicher Sommertag. So ist unsere Gewalttour auf den Eisvulkan „Schnee von gestern“ und wir machen uns frohen Mutes auf in die Región Siete Lagos, die als die ruhigste im Seengebiet gilt. Die Straße zum Lago Calafquen führt uns durch Frühlingswiesen und Wälder mit mächtigen Bäumen, vorbei an Blockhütten, von denen viele als Cabañas vermietet werden - eine Idylle, wie man sie auch im Salzkammergut vorfinden könnte, wären da nicht die Schneekegel der Vulkane Villaricca, Choshuenco, Lanin und Quetrupillan. Das Gebiet der Sieben Seen fühlt sich wie eine Allegorie aus Feuer und Wasser an.



Die Termas Geométricas sind eine spektakuläre Symbiose aus Landschaftsarchitektur und natürlicher Umgebung. Der bekannte chilenische Architekt Germán del Sol bettete seine Anlage zwischen steile Bergwände und Felsnischen, verband 20 Becken mit Laufstegen und schuf auf diese Weise eine Oase des Wohbefindens. Unter den mächtigen, grünen Schirmen des Riesenrhabarbers Nalca gluckert der Bach, von den Hängen rieseln kleine Wasserfälle, die als natürliche Duschen dienen. Allerdings ist der Temperaturunterschied zwischen den bis zu 46 Grad heißen Badebecken und dem eiskalten Schneewasser nur etwas für äußerst abgebrühte Warmbader und Kaltduscher.




Das Feuer der Vulkane, die Falken, Ibisse und Kiebitze der Lüfte und die ungebändigte Macht des Wassers – Chiles urwüchsige Kraft macht demütig! Im Licht der Sonne bäumt sich im Salto Huilo Huilo der Rio Fuy gegen die Schwerkraft auf und schäumt  in die Höhe. Zu Nebel zerstäubt, bricht er das Sonnenlicht in Strahlenbahnen, die aussehen, als wären sie mit feinen Duschestiften gezeichnet. Wer genau zuhört, kann im Donnern des Wassers ein jubelndes „Huilo Huilo“ vernehmen. Wenige Meter weiter verwandelt sich der stürzende Fluss wieder in ein grünes Band aus Smaragdbecken.



Die schönsten Wasserfälle des Seenlandes sind wohl die Saltos del Petrohué im Parque Nacional Pérez Rosales. Ursprünglich waren der Lago Llanquique und Lago Todos los Santos miteinander verbunden. Eine Eruption des Osorno trieb einen Lavastrom als Keil zwischen die Seen. Weil die Lava unter dem Eisschild des Vulkans abfloss, verlor sie an Geschwindigkeit und lagerte sich besonders mächtig ab. Dieses schwarze Basaltfeld bildet heute das Bett des Rio Petrohué.